(Die Welt, 5.8.2006) Dank des Internets können spezielle Geschmäcker heute ebenso leicht bedient werden wie Liebhaber des Mainstreams. Schon jetzt verdienen die Unterhaltungskonzerne mit Nischen mehr als mit Hits. Das macht ihre Existenz schwierig und unvorhersehbar. Sie müssen ihr Geschäftsmodell ändern.
Es war am Tag nach dem WM-Finale, als sich drei äußerst schlecht gelaunte Franzosen im Musikstudio trafen. Das Leben machte nach der Niederlage gegen Italien nur noch bedingt Sinn. Eine Aufheiterung für ihre Freunde wollten sie machen, erzählt Emmanuel Lipszyc, einer der drei Musikproduzenten. Gemeinsam komponierten sie in 30 Minuten den Song Couple de Boule und verschickten die musikalische Satire auf den Kopfstoß von Zinédine Zidane gegen den Italiener Marco Materazzi per Mail. Zwei Stunden, nachdem sie den Song ins Internet gestellt hatten, lief er bereits im Radio. Kurz danach erhielt die Band einen Plattenvertrag von Warner Music, und das Lied stürmte auf Platz eins der französischen Charts.
Irgendwie lief das früher anders, als noch Musikagenten junge Künstler aussuchten, und die Plattenchefs bestimmten, wer einen Vertrag bekommt und wem man nur für das weitere Leben alles Gute wünscht. Heute ist eine seltsame Entwicklung eingetreten: Die Menschen hören und machen mehr Musik denn je, nur verdienen Plattenkonzerne trotzdem immer weniger. In den USA verkaufte sich kein nach 2000 produziertes Album in den Plattenläden und im Internet so gut, dass es in den 25 bestverkauften Platten aller Zeiten landete.
Der Chefredakteur des US-amerikanischen Technologie-Magazins Wired, Chris Anderson, hat sich in der Unterhaltungsbranche umgesehen. Wo immer er auch hinschaute, der Mainstream verschwindet. TV-Sender leiden unter sinkenden Zuschauerzahlen, Basketball, Football und Olympia interessieren immer weniger. Nur noch 52 Prozent der Amerikaner lesen Zeitung, 81 Prozent waren es vor 40 Jahren.
Anderson prophezeit nicht weniger als das Ende der Blockbusters und stellt so die Existenzberechtigung der Konzerne infrage. Vor wenigen Wochen hat er ein Buch veröffentlicht. The Long Tail heißt es und ist das meistdiskutierte US-Wirtschaftsbuch des Jahres. Denn es ist der erste gelungene Versuch, die Folgen der Atomisierung der Geschmäcker auf die Medienindustrie zu analysieren.
Die Idee des langen Schwanzes ist im Grunde ziemlich einfach und entstammt der Statistik. Danach hat die Nachfragekurve erst einen hohen Wert und flacht langsam ab. Die Konzerne setzten bisher auf Hits und konzentrierten ihre Anstrengungen auf Stars. Nichts war für sie uninteressanter als der flache Teil der Kurve. Dort verkümmern Nischenprodukte, die vielleicht irgendjemanden, irgendwo interessieren könnten.
Doch das Internet hat die Regeln für Konzerne und Gesellschaft verändert. Eine Massenkultur ist heute nicht mehr so leicht auszumachen. Für die Industrie hat dies irritierende Folgen, stellt sie doch ihr Geschäftsmodell infrage. Größe ist im Zeitalter des unbegrenzten Unterhaltungsangebots ein äußerst relativer Begriff. Im Hier und Heute tritt jedes Buch, jeder Film, jeder Song nicht nur gegen jedes Produkt seiner Gattung an, sondern gegen jede irgendwann einmal hergestellte und digitalisierte Ware.
Die Auswirkungen können Konzernmanager in der Unterhaltungsindustrie schon heute in ihren monatlichen Umsatzzahlen ablesen: Musikalben verkaufen sich in diesem Jahrzehnt deutlich weniger als in den 90er-Jahren, der Bücherabsatz verläuft schleppend. Demnach ist die Kurve flacher geworden und länger. Denn das Internet kennt keine Kapazitätsgrenze. Jeder Wunsch, so obskur er auch sein mag, wird erfüllt. Wer schöne Anekdoten über den Pfälzer Wein lesen möchte, wird genauso fündig wie der Freund von schrammeligen Mudhoney-Liedern.
Allerdings heißt das nicht, dass Pop- und Rock-Ikonen verschwunden sind. Auch 2006 gibt es noch Superstars wie die Rolling Stones, Shakira oder Tokio Hotel. Nur ist das Interesse der Öffentlichkeit auf die Stars so beherrschend, dass sie ein sicherer Umsatzgarant sind. Nach wie vor gibt es Evergreens: Seit über vier Jahren ist Schlagersängerin Andrea Berg mit ihrer Best-of-CD unununterbrochen in den Charts, nur eine Veröffentlichung hat sich jemals länger in der deutschen Hitliste gehalten. Natürlich sei das Verkaufsniveau insgesamt zurückgegangen, sagt Edgar Berger, Deutschland-Chef des Musikkonzerns SonyBMG. Aber sehr gut verkaufte CDs gebe es genauso wie früher: Die Bedeutung der Hits hat nicht abgenommen.
Was Berger beobachtet, ist in der Branche Konsens. Tim Renner, früherer Chef bei Universal Deutschland und heute Miteigentümer und Geschäftsführer des unabhängigen Radiosenders Motor FM, steht nicht unter Verdacht, Freund des Mainstreams zu sein. Doch auch er glaubt, dass es immer Superstars und Konzerne geben wird. Denn nur große Plattenfirmen könnten für Madonna oder Robbie Williams weltweit Werbedruck aufbauen. Diese zentral vermarkteten Acts seien irre profitabel.
Konsens ist aber auch, dass Nischenprodukte eine viel stärkere Bedeutung haben als früher. Für kleine Plattenlabels ist das eine willkommene Entwicklung, können sie doch ihre Kunden gezielt und ohne Umweg über den Handel ansprechen. Aber auch für Musikkonzerne hat die Entwicklung Vorteile. Unzählige Songs haben sie in den vergangenen Jahrzehnten gesammelt. Nun sind sie fleißig dabei, diese zu digitalisieren. So arbeitet SonyBMG daran, türkisches und griechisches Liedgut online verfügbar zu machen, das sonst keinen Platz im Regal eines deutschen Plattenladens gefunden hätte.
Dass das Ende der Massenkultur mehr als Theorie ist, zeigt das Geschäftsmodell der Suchmaschine Google. Der Long Tail, wenn man ihn als differenzierten Konsumentenwunsch definiert, ist ein absolutes Faktum, sagt Philipp Schindler, Nordeuropa-Chef bei Google. Wir wissen, dass er existiert, wegen der nahezu unendlich vielen Begriffe, die bei uns gesucht werden. Diese Erkenntnis macht Google zu Geld: Unternehmen buchen Werbung für zigtausend unterschiedliche Suchbegriffe, die irgendwie zu ihren Produkten passen könnten. Aus dieser Fragmentierung der Konsumentenwünsche entstanden Konzerne wie Amazon, Ebay oder Google. Weil sie es geschafft haben, wie Schindler es ausdrückt, Konsumenten und Unternehmen den Long Tail zugänglich zu machen. (Die Welt / Matthias Wulff / 5. August 2006)
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